Hallescher Pietismus und der »Orient« – Dynamiken globaler religiöser Interaktionen im 18. Jahrhundert
Interdisziplinärer Workshop, 27.–29. September 2023, Franckesche Stiftungen, Haus 52, Neubauer-Saal
Interdisziplinärer Workshop, 27.–29. September 2023, Franckesche Stiftungen, Haus 52, Neubauer-Saal
In der formativen Phase des Halleschen Pietismus stellte der »Orient« einen zentralen Bezugspunkt und zugleich eine wichtige Projektionsfläche dar. Diese Fokussierung beruht wesentlich auf dem praxisorientierten Interesse an der weltweiten Mission und der Kontaktaufnahme mit den christlichen Kirchen Osteuropas, West- und Südasiens sowie Nordostafrikas, aber auch auf einer Konjunktur der orientalischen Philologie an der 1694 gegründeten Universität Halle als einer jungen und sich in Aufschwung befindlichen Wissenschaftsdisziplin. August Hermann Francke, der seine Laufbahn an der Universität Halle ausgerechnet als Professor für orientalische Sprachen begonnen hat, hat diese zwei Traditionsstränge der Wissensproduktion in Bezug auf den »Orient« zusammengeführt und durch die Gründung des Collegium Orientale Theologicum bereits 1702 institutionalisiert. Noch in den nachfolgenden Generationen Hallescher Pietisten spielte der »Orient« eine gewichtige Rolle, wie sich zum Beispiel am 1728 gegründeten Institutum Judaicum et Muhammedicum des Francke-Schülers Johann Heinrich Callenberg zeigt. Einzubetten ist diese für den Pietismus prägende Entwicklung in den größeren europäischen Kontext protestantischer Auseinandersetzungen mit dem »Orient«. Angefacht durch die Informationen über erfolgreiche missionarische Projekte der katholischen Konkurrenz machte sich ab dem 17. Jahrhundert auch unter den Angehörigen der protestantischen Konfessionen ein Aktionismus breit, der auf die Ostchristen fokussiert war. Neben dem Judentum, welches im Halleschen Pietismus auch als eine explizit »orientalische« religiöse Erscheinung greifbar ist, geriet auch der Islam in den Blick der Hallenser.
Der Workshop widmet sich der Vielzahl an Initiativen, die aus diesem Aktionismus hervorgingen und in vielen Fällen nie über das Stadium der Planung hinauskamen. Es soll fokussiert werden, wie von mobilen Akteuren ebenso wie von Daheimgebliebenen verschiedene Räume und religiöse Traditionen als spezifisch »orientalisch« imaginiert wurden. Ebenso soll die Ambivalenz dieser Projektionen herausgestellt werden, zwischen dem »Orient« als Sehnsuchtsort (etwa als Ort der Überlieferung eines genuinen Christentums und potentieller antikatholischer Verbündeter) und als Abschreckungsort (an dem etwa Aberglaube und Rückständigkeit vorherrschten). Der »Orient« lässt sich demzufolge als eine polysemantische und äußerst heterogene Leitkategorie verstehen, die für die pietistische Weltwahrnehmung und -beschreibung im 18. Jahrhundert von zentraler Bedeutung war. Die Komplexität dieses imaginären Raumes erfordert eine dezidiert interdisziplinäre Betrachtungsweise, die im Rahmen des Workshops ermöglicht werden soll. Dabei ist insbesondere nach der Bedeutung des »Orients« – oder vielmehr von jeweiligen Vorstellungen von dem »Orient« – für Mobilitätspraktiken und die Herstellung von Zugehörigkeit zu fragen. In den Fokus genommen werden sollen auch die Dynamiken der Interaktion zwischen beteiligten Akteuren inner- und außerhalb des Halleschen Pietismus (etwa Leitung des Waisenhauses, reisende Missionare, protestantische Händler, diplomatische Vertretungen europäischer politischer Entitäten im Osmanischen Reich usw.). Auch wurde den von Halle gesteuerten oder aber inspirierten missionarischen Praktiken im Osmanischen Reich bisher weitaus weniger Aufmerksamkeit zuteil, als denen in anderen missionarischen Aktionsräumen wie zum Beispiel Nordamerika oder Indien.
Konzeption und Leitung: Daniel Haas (Hamburg), Stanislau Paulau (Halle), Stefano Saracino (Jena/München), Friedemann Stengel (Halle), Holger Zaunstöck (Halle)