Hallescher Pietismus
Nach der Reformation Martin Luthers (1483–1546) ist der Hallesche Pietismus die bedeutendste Reformbewegung des Protestantismus zwischen Reformation und Aufklärung. August Hermann Francke verfolgte und entwickelte zentrale reformatorische Ziele weiter. Im Mittelpunkt stand die Bibel, deren regelmäßige Lektüre in privaten Gruppen, den sogenannten Konventikeln, die Pietisten zunächst in die Kritik gebracht hatte, ebenso wie die Lebensführung in strenger Frömmigkeit. Francke strebte danach, christliche Überzeugungen und reformatorische Impulse in die Praxis umzusetzen und für Kirche und Gesellschaft fruchtbar zu machen (Praxis Pietatis). Er antwortete auf die soziale Not mit einem Bildungswesen, das jeden Menschen zu selbstverantwortlicher Teilhabe an der Gesellschaft befähigen sollte und ebnete den Weg für ein staatliches Fürsorgesystem. Die erste Bibelanstalt der Welt am Halleschen Waisenhaus, die Entstehung des Lehrerberufs und die erste protestantische Mission zählen zu den vielgestaltigen Wirkungen des Halleschen Pietismus.
»Ein publiques Werk...«
Im Frühjahr 1695 fand August Hermann Francke vier Thaler und sechzehn Groschen in der Spendenbüchse seiner Pfarrwohnung und berichtete: »Als ich dieses in die Hände nahm, sagte ich mit Glaubens-Freudigkeit: Das ist ein ehrlich Capital, davon muss man etwas rechtes stiften; ich will eine Armen-Schule damit anfangen.« 30 Jahre später war südlich der Stadt Halle eine nahezu autark funktionierende Schulstadt entstanden. Schul- und Wohnräume, Wirtschafts- und Versorgungseinrichtungen, ausgesuchte Sammlungen und ausgedehnte Lehrgärten formten eine Bildungsanstalt für Kinder aller Stände. Bereits im 18. Jahrhundert beeindruckte die Dimension der teils aus Stein, teils aus Fachwerk konstruierten Gebäude. Vorbilder für sein Werk fand Francke u. a. in den niederländischen Waisenhäusern, die als die fortschrittlichsten ihrer Zeit galten. Dorthin hatte er 1698 seinen engsten Mitarbeiter und späteren Bauinspektor Georg Heinrich Neubauer (1666–1725) zur Recherche entsandt. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg unterstützte den Aufbau der Schulstadt mit einem Privileg.
Bildung für alle
Franckes Bildungsreform stützte sich auf neue Denkansätze. Zu den großen Vorbildern zählt Amos Comenius (1592–1670), aber auch die Veröffentlichung des katholischen Bischofs François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651–1715) »Von der Erziehung der Töchter«, entging nicht seiner Aufmerksamkeit. Das mehrgliedrige Bildungskonzept für Mädchen und Jungen umfasste Deutsche Schulen (1695), die Lateinische Schule (1697) und das Königliche Pädagogium (1698). In den Schulkonzepten Franckes rückte erstmals das Individuum in den Blick der Pädagogik. Die Zöglinge wurden gemäß ihrer persönlichen Begabungen ausgebildet. Ausgesuchte Sammlungen wie eine Kunst- und Naturalienkammer, eine Bibliothek, eine Anatomiestube und ausgedehnte Lehrgärten ergänzten das klassische Unterrichtsangebot. Die eigene Verlagsdruckerei produzierte hochwertige Lehrbücher, die bis ins 20. Jahrhundert hinein deutschlandweit Anwendung fanden. Francke favorisierte als Lehrmethode den Anschauungsunterricht und begründete damit das Realschulwesen, wie es noch heute in Deutschland Bestand hat. Studenten der Universität verpflichtete er als Lehrer an seinen Schulen und begründete das erste Lehrerbildungsinstitut Deutschlands. Die praxisnahe Ausbildung der Theologen war ebenso fest im Alltag der Schulstadt Franckes verankert wie die Versorgung von Patienten am Krankenbett durch angehende Mediziner, wie bei der heutigen Famulatur üblich.
Eine neue Bildungsarchitektur
Vom Waisenhaus ausgehend wuchsen in östlicher Richtung zwischen 1701 und 1748 auf längsrechteckigem Grundriss die beeindruckenden Fachwerk- und Steinbauten der Schulstadt in die Höhe. Zwischen dem Waisenhaus im Westen und dem Königlichen Pädagogium im Osten setzten die heute vollständig erhaltenen Bauten Standards in der Geschichte der Bildungsarchitektur, darunter das Lange Haus als größter Fachwerkwohnhausbau Europas, der älteste erhaltene profane Bibliotheksbau Deutschlands und die erste Bibelanstalt der Welt. Repräsentation und Funktionalität wurden so geschickt verbunden, dass ohne größere Umbaumaßnahmen Schulräume zu Wohnräumen, Labore zu Wirtschafts- oder Archivräumen werden konnten. Der repräsentative Anspruch zeigt sich besonders am Langen Haus, das in drei kurzen Bauphasen errichtet wurde. Die einzelnen Gebäudeteile verschmelzen dank der gleichmäßig konstruierten Rasterfassade zu einem imposanten Baukörper, der entlang der Stadtmauer errichtet von Einwohnern, Universitätsangehörigen und Gästen große Aufmerksamkeit erregte.
Lokal prägend bei weltweiter Ausstrahlung
Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein entstanden Waisenhäuser nach hallischem Vorbild in Deutschland und Europa, die die hallischen Reformen im Bildungs- und Fürsorgewesen aufnahmen. In Wernigerode hatte der eng mit Francke vertraute Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1691–1771) ein Waisenhaus als Ausdruck der Reformen in seiner Grafschaft errichtet. In Potsdam ließ der preußische König Friedrich Wilhelm I. 1724 das Große Militärwaisenhaus nach dem Vorbild Halles errichten. Waisenkinder ehemaliger Militärangehöriger sollten hier wie in Halle eine Ausbildung erhalten, die ihnen eine eigenverantwortliche Existenz ermöglichen würde. 1727 gründete der dänische König Friedrich IV. in Kopenhagen das neue Königliche Waisenhaus nach hallischem Vorbild. Nicht nur der Adel, auch engagierte Bürgerliche orientierten sich an Halle. In Züllichau gründete der Schneidermeister Siegmund Steinbart (1677–1739) im Jahr 1719 ein Waisenhaus, dem eine Druckerei mit Buchhandlung und später ein Königliches Pädagogium angehörten.
Weltweite Kommunikation
Um die in Halle umgesetzten Reformen auch weltweit wirksam werden zu lassen, bediente sich August Hermann Francke eines effektiven Kommunikationsnetzwerkes, das auch die politischen Machtzentren der Zeit einschloss. Für die Reformpolitik Peters des Großen (1672–1725) empfahlen die preußischen Könige Franckes Bildungswerk. Am Londoner Hof liefen die transatlantischen Aktivitäten Franckes zusammen, an denen auch der dänische König Friedrich IV. (1671–1730) beteiligt war. Neben dem intensiven Briefwechsel mit Unterstützern und den in Halle ausgebildeten Schülern und Lehrern, die als Mittler der hallischen Ideen an ihren Wirkungsorten auftraten, setzte Francke auf ein breit aufgestelltes Publikationswesen. Gleichzeitig sammelte er Nachrichten aus aller Welt, so dass das Hallesche Waisenhaus zu Beginn des 18. Jahrhundert einer der am besten informierten Orte in Deutschland war. Francke baute den Vorläufer einer Nachrichtenagentur auf und publizierte eine der ersten Tageszeitungen in Preußen. Der blühende Buchhandel war eine einträgliche Einnahmequelle des Halleschen Waisenhauses. 1710 wurde auf Initiative des Berliner Freiherrn Carl Hildebrand von Canstein (1667–1719) die Cansteinsche Bibelanstalt gegründet, die sich als erste Bibelanstalt der Welt für die Verbreitung der Bibel mittels preiswerter Druckausgaben einsetzte.
Die Halleschen Pietisten organisierten auch die Verbreitung des Luthertums in Übersee. Im Auftrag des dänischen Königs Friedrich IV. (1671–1730) errichteten zwei bei Francke ausgebildete Theologen in der dänischen Handelskolonie Tranquebar an der Südostküste Indiens eine Missionsstation. Die Missionare gründeten Sozialeinrichtungen und Schulen nach hallischem Vorbild für Jungen und erstmals in Indien auch für Mädchen. Von hier aus wurde auch die Druckerkunst über ganz Indien verbreitet. Aus der Dänisch-Halleschen Mission ging 1919 die Tamil Evangelical Lutheran Church (TELC) hervor. Zeitgleich intensivierten sich auch die Kontakte Franckes zu den britischen Kolonien in Nordamerika. 1733 erreichten hallische Pastoren zur Betreuung der Salzburger Emigranten in Georgia Nordamerika. 1741 wurde Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787) von Halle nach Philadelphia entsandt. Er gilt heute als Patriarch der lutherischen Kirche Nordamerikas. Seine Söhne erhielten ihre Ausbildung an den Schulen Franckes in Halle und zählen heute zu den Gründungsvätern der amerikanischen Demokratie.
Die Anstalten nach dem Tod Franckes 1727
Als August Hermann Francke im Jahr 1727 starb, lebten und arbeiteten etwa 3000 Menschen, davon weit über 2000 Kinder, in der Schulstadt. Sein Lebenswerk vertraute er seinem Sohn Gotthilf August Francke (1696–1769) und seinem engsten Vertrauten Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739) an, die gemeinsam die Geschicke der Schulstadt fortführten. Ende des 18. Jahrhunderts machten sinkende Schülerzahlen eine grundlegende Erneuerung des Schulprogramms nötig. Der Gelehrte und Politiker, Dichter und Publizist August Hermann Niemeyer (1754–1828), ein Urenkel Franckes, der mit Goethe, Schiller, Klopstock und anderen Größen seiner Zeit Umgang pflegte, verstand es, den Stiftungen moderne Impulse zu geben und sie zu neuer Blüte zu führen. Er wurde von seinen Zeitgenossen als zweiter Gründer der Stiftungen gefeiert. In seiner Funktion als Kanzler und Rektor der Universität sowie als Direktor der Franckeschen Stiftungen prägte er das hallische Leben zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wirkte zugleich als preußischer Bildungspolitiker und Pädagoge weit über die Grenzen der Stadt hinaus.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte die preußische Regierung nicht nur in die Verwaltungshoheit der Stiftungen eingegriffen, auch eine Anpassung an das preußische Schulwesen hatte stattgefunden. Hermann Agathon Niemeyer (1802–1851) führte die Schulstadt geschickt durch diese Ära. Er legte den Grundstein für die Stiftungsschulen, wie sie bis 1945 Bestand hatten, wahrte den besonderen Charakter der Schulstadt als christliche Erziehungsanstalt und konnte herausragende Lehrer wie Ernst Theodor Echtermeyer (1805–1844) gewinnen, deren Lehrbücher Generationen deutscher Schüler nutzten. Vier neue Schulbauten sind in dieser Zeit auf dem Gelände der Stiftungen entstanden: 1857 die Realschule, die 1914 um den Neubau der Oberrealschule mit neusprachlichem Angebot ergänzt wurde. 1896 das Lyzeum als Fortführung der Höheren Töchterschule und 1906 der Neubau der Latina.
Die Franckeschen Stiftungen im 20. Jahrhundert
Trotz starker Beeinträchtigungen gelang es dem Direktorium der Stiftungen, den humanistischen Geist der Schulen während der Zeit des Nationalsozialismus zu bewahren. Intensive Nutzung und äußerste finanzielle Knappheit wurden aber für die historischen Gebäude zur Bedrohung. 1946 wurden die Franckeschen Stiftungen aufgelöst und die Schulgebäude, Internate, erwerbende Betriebe sowie die kulturhistorischen Sammlungen in die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eingegliedert. Im Norden wurde eine vierspurige Schnellstraße an den Stiftungsgebäuden entlanggezogen und im Südosten des Geländes Hochhäuser errichtet. Die Stiftungen standen am Ende der DDR kurz vor dem Untergang. Erst 1990 setzte auch für die Franckeschen Stiftungen die Wende ein. Unter dem Motto »Rettet die Franckeschen Stiftungen!« gründete sich ein Freundeskreis und 1991 wurden die Franckeschen Stiftungen als öffentlich-rechtliche Stiftung wiederhergestellt. Dank breiter gesellschaftlicher Unterstützung konnte der Wiederaufbau der Franckeschen Stiftungen beginnen.
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