Mit Blick auf die wissenschaftliche Erforschung der Franckeschen Stiftungen liegt der zeitliche Schwerpunkt eindeutig auf dem 18. Jahrhundert. Angesichts der weltweiten Ausstrahlung der Stiftungen in dieser Zeit gibt es dafür nachvollziehbare Gründe. Die Stabsstelle hat es sich jedoch auch zur Aufgabe gemacht, gezielt Forschungen zur Stiftungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu stärken. Zum einen blieb der Charakter der Stiftungen als »Schulstadt«, die sich zur »Stadt in der Stadt« entwickelte, ziemlich einzigartig. Zum anderen ist die überlieferte Dichte des Archiv- und Quellenmaterials so reichhaltig und vielfältig, dass sie einen thematisch ausdifferenzierten Zugriff auf die Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert erlaubt. Dadurch werden Längsschnitt- und Tiefenanalysen der Stiftungsgeschichte in ganz unterschiedlichen politischen Systemen und über politisch-gesellschaftliche Strukturbrüche hinweg möglich – die wiederum vergleichend in Bezug zu weitergreifenden Entwicklungslinien gesetzt werden können.
Derzeit entwickelt Daniel Watermann ein Projektvorhaben mit dem Fokus auf Schüler:innenleben. Aufbauend auf umfangreiche Vorarbeiten (siehe unten) und aktuellen Debatten in der historischen Bildungsforschung sollen dezidiert die Deutungen, Erfahrungen und Biografien von Schüler:innen Ausgangspunkt sein und in den Mittelpunkt gerückt werden. Es geht mithin um eine Perspektive, mit der eine Geschichte aus Sicht der Jugendlichen möglich werden soll und nicht eine Schüler:innen-Geschichte aus der Sicht der Lehrenden und Institutionen. Möglich soll dies werden durch einen – kritisch und methodisch intensiv zu reflektierenden – umfangreichen Bestand an selbstverfassten Lebensläufen aus fünf Jahrzehnten. Für 2025 ist ein interdisziplinärer Workshop in Planung.
Buchprojekt »Schülervereine in den Franckeschen Stiftungen 1843–1945«
Schülervereine um 1900 sind in der neuen Forschung bisher kaum in den Blick genommen worden. Die Monografie von Daniel Watermann ist daher auch als Pionierstudie zu einer Form jugendlicher Selbstorganisation anzusehen, die in der bisher vor allem auf die Jugendbewegung konzentrierten Forschungsliteratur keine Beachtung gefunden hat. Dabei entstanden Schülervereine an fast jeder höheren Schule für Jungen und auch an den Schulen für Mädchen. Sie bildeten ein eigentümliches Sozialisationsmodell aus, das sowohl von Disziplinierung als auch von Selbstverantwortung und Autonomie bestimmt war.
In dem Buch werden erstmals die umfangreichen bildungspolitischen und pädagogischen Debatten um verbotene Schülerverbindungen und um die von den »Schulmännern« als positives Gegenmodell verstandenen Schülervereine ausdifferenziert betrachtet. Diese Debatten sowie die Ordnungen an den einzelnen Schulen konturierten zugleich die Grenzen der Betätigungsmöglichkeit für die Schülervereine.
An den Franckeschen Stiftungen entstand ein ungemein reichhaltiges Schülervereinswesen – beginnend mit der Gründung des Schülergesangvereins »Loreley« 1843, eine der ältesten Gründungen im deutschsprachigen Raum überhaupt. Fast ein Jahrhundert prägten die Vereine den schulischen Alltag – Feste, Freizeitgestaltung, Darbietungen wie Schauturnen, Konzerte oder Theaterstücke – erheblich mit. Dabei agierten die Schülervereine zwar im Rahmen begrenzter Spielräume, konnten aber zugleich, durchaus selbstbewusst, eine nicht unerhebliche Fülle von Autonomie und Privilegien geltend machen. So führten sie, scheinbar ganz selbstverständlich, zahlreiche von den studentischen Verbindungen übernommene Traditionen und einen entsprechenden Habitus fort. Dass die Vereine an den Stiftungen eine besondere Bedeutung hatten, wird auch dadurch ersichtlich, dass Latina-Rektor Alfred Rausch (1858–1939) 1904 die erste umfangreiche Monografie zum Thema überhaupt vorlegte.
Vor allem die faszinierenden Spannungsfelder, in denen sich die Schülervereine bewegten – zwischen Kontrolle und Autonomie, Disziplinierung und individueller Entfaltung, Nachteilen für Mädchen und Freiräumen für Jungen sowie einer Existenz mit wechselnden Herausforderungen in drei politischen Systemen werden in der Monografie von Daniel Watermann beleuchtet.
Das Buch erscheint Ende 2024 in der Reihe »Hallesche Forschungen« im Verlag der Franckeschen Stiftungen.
Kabinettausstellung »Schülervereine in den Franckeschen Stiftungen (1843–1936). Zusammenhalt – Konkurrenz – Wettbewerb« (April 2023 – April 2024)
In der von Jürgen Gröschl kuratierten Ausstellung wurden Fotos, Berichte, Plakate und Dokumente aus dem Schularchiv gezeigt, die das Wirken der Schülervereine zwischen 1843 und 1936 dokumentieren (zur Online-Ausstellung). Der politische Aufbruch in der Mitte des 19. Jahrhunderts begünstigte die Entstehung von Schülervereinen. In den Stiftungen bildete sich mit sportlichen, musischen, wissenschaftlichen und religiösen Verbindungen ein besonders reiches Vereinsleben aus. Das Ziel dieser Gemeinschaften war die Erziehung ihrer Mitglieder zu Ordnung und Disziplin, Verantwortungsgefühl und kameradschaftlichem Umgang. Im Wettstreit maßen die Schüler ihre Kräfte in den Turnvereinen, begleiteten mit musikalischen Aufführungen das Anstaltsleben und stellten sich dem Wettbewerb bei überregionalen Veranstaltungen, waren aber auch Ausdruck einer zunehmenden Nationalisierung und Militarisierung. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Selbstständigkeit der Vereine immer stärker eingeschränkt und sie wurden schließlich aufgelöst.
Jahresausstellung »Moderne Jugend? Jungsein in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933« der Franckeschen Stiftungen 2019 mit zugehörigem Katalog
Die Jugend ist die Zeit des Aufbruchs, der Risikobereitschaft und des Vorwärtsdrängens, aber auch die Zeit großer Fragen und Verunsicherungen. Gerade in den Jahren der Klassischen Moderne scheinen Hoffnung und Enttäuschung nah beieinander zu liegen, wirken gegenläufige Tendenzen unmittelbar auf die Jugendlichen ein. Am Beispiel des Jungseins in den Franckeschen Stiftungen wird eine Reihe von zentralen Fragen verhandelt und anschaulich dargestellt: Werden Schule und Bildungsperspektiven eher als Erfolgsgeschichten begriffen oder hinterlassen sie ein Gefühl der Krise oder des Scheiterns? Wie spiegelt sich die Entwicklung der Körperlichkeit in Sport und Sexualität zwischen Individualität und Normativität wider, wie wirken sich Militarisierung und Kriegserfahrung auf die Heranwachsenden aus? Dienen Radio, Literatur und Film eher als Informations-, Indoktrinations- oder eigenes, modernes Ausdrucksmittel?
Katalog: Moderne Jugend? Jungsein in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933. Hrsg. von Holger Zaunstöck und Claudia Weiß unter Mitarbeit von Tom Gärtig und Claus Veltmann. Halle 2019 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 36).
Sport in den Franckeschen Stiftungen zwischen 1890 und 1933
Der 21. Tag der hallischen Stadtgeschichte am 13. November 2021, veranstaltet vom Verein für hallische Stadtgeschichte e.V., widmete sich dem Thema »Kein Abseits! Geschichte und Kultur des Sports in Halle«. In Vertiefung seines Beitrags zur Jahresausstellung 2019 erörterte Tom Gärtig in diesem Rahmen unter der Überschrift »›ein erziehliches Mittel ersten Ranges‹. Turnen, Spiel und Sport in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933« die ambivalente Rolle des Sports in den Stiftungsschulen und -sportvereinen zur damaligen Zeit. Neben dem Turnen, Croquet, Tennis und Cricket begeisterte auch der aus England importierte Fußball die männliche Stiftungsjugend. Die Möglichkeiten sportlicher Betätigung nahmen für Mädchen jedoch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nur langsam zu. Entsprechend der Forderung Kaiser Wilhelms II. (1859–1941) sollte der Sport vor allem dafür sorgen, die männliche Jugend körperlich zu ertüchtigen und damit wehrtauglich zu machen. Daneben sollte er auch ein Mittel sein, körperliche Spannungen abzubauen, um sexuellen Handlungen von Jugendlichen vorzubeugen.
Der Aufsatz erscheint im »Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte« 2024.
Diskussionen um ›gute‹ und ›schlechte‹ Kinder- und Jugendliteratur zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs
Der Aufsatz »Diskussionen über ›Schmutz und Schund‹ in der Kinder- und Jugendliteratur im Deutschen Kaiserreich« (Kinder- und Jugendliteratur & Medien – kjl&m 4/2021) von Claudia Weiß untersucht am Beispiel der Schulen und des Verlags der Franckeschen Stiftungen das Ringen unterschiedlicher Gruppen um eine für Heranwachsende geeignete Literatur. Zu dieser Zeit kamen neue Literaturformate wie Heftserien mit unterhaltsamen Kriminal-, Abenteuer- und Liebesgeschichten auf, welche insbesondere Kinder und Jugendliche begeisterten. Gleichzeitig mit solchen Veränderungen auf literarischem Gebiet, aber auch der Entstehung des neuen Mediums Film, entwickelte sich eine teils öffentlich, teils privat geführte Diskussion um den ›richtigen‹ Mediengebrauch Heranwachsender. An der unter dem historischen Begriff des »Kampfes gegen Schund und Schmutz« geführten Auseinandersetzung waren unterschiedliche, sich teils gegenüberstehende Gruppen, v. a. aus den Bereichen Bildung, Erziehung und Politik, beteiligt.
Im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle erschienen zahlreiche Schriften zum Thema »Schund und Schmutz«. Diese in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen überlieferten Drucke geben Einblicke in die kontroverse Diskussion um ›gute‹ Kinder- und Jugendliteratur und verweisen auf konkrete lokale Auswirkungen wie Ausstellungen über die sogenannte Schundliteratur, welche hallesche Schüler:innen und Lehrer:innen zu besuchen hatten.